Vor 20 Jahren enthüllte der kicker die katastrophale wirtschaftliche Lage bei Borussia Dortmund. Präsident Gerd Niebaum verlor sich in Unwahrheiten und Rettungsversuchen, die ihn letztlich alle Ämter beim BVB kosteten.
Dortmund und der spektakuläre Oktober 2004
Beim Start seiner Talkshow im Deutschen Sportfernsehen inszeniert sich Boris Becker Ende April 2004 als knallharter und investigativer Fragesteller. Mit Märchengeschichten brauche ihm niemand zu kommen, gelobt der dreimalige Wimbledon-Champion und verkündet vollmundig: „Wer lügt, wird ausgekontert.“ Ottmar Hitzfeld kommt zu „Becker 1:1“, Franz Beckenbauer, Rudi Völler, auch Günter Netzer. Unspektakulär plätschern die meisten Gespräche dahin – bis zum Oktober 2004, als Dr. Gerd Niebaum dem einstigen Tennis-Ass gegenübersitzt.
„Es tut schon weh, wenn sie das so lange gemacht haben und ihnen immer wieder neu suggeriert wird, der Niebaum ist ein Schädling und ein Schuft.“ (Gerd Niebaum in Boris Beckers Talkshow)
Der schwer unter Druck geratene Präsident von Borussia Dortmund seift Becker nach allen Regeln der Kunst ein und setzt auf die Mitleidstour: „Es tut schon weh, wenn sie das so lange gemacht haben und ihnen immer wieder neu suggeriert wird, der Niebaum ist ein Schädling und ein Schuft.“ Der Jurist gaukelt Becker vor, er sei das Opfer einer Medienkampagne. Bei kicker und der Süddeutschen Zeitung, die in einer Artikelserie die katastrophale wirtschaftliche Situation von Borussia Dortmund enthüllen und ihn als einen wesentlichen Verursacher dieser Misere markiert haben, seien „Zerstörer am Werk“.
Niebaum kündigt seinen Rücktritt an
Noch in derselben Woche erfährt die Öffentlichkeit, dass Niebaum Talkmaster Becker einen dicken Bären aufgebunden und in dessen Sendung die Unwahrheit gesagt hat. Kurz darauf, am 17. Oktober 2004, kündigt Niebaum seinen Rücktritt als BVB-Präsident an, vier Wochen später auf der hoch emotionalen Mitgliederversammlung des Klubs endet die Ära des BVB-Patriarchen nach 18 Jahren dann auch offiziell. Niebaums Lügengebäude kracht zusammen. Am 9. Februar 2005 quittiert er auch als Vorsitzender der Geschäftsführung seinen Dienst.
Schlaraffenland ist abgebrannt: Als Brügge den BVB in die Beinahe-Pleite stürzte (k+)Von 1920 bis heute: Mit dem kicker+ Abo jetzt alle kicker-Ausgaben lesen
Reuter lobt und kritisiert Niebaum
Der ewige Präsident ist ein Vordenker, ein Revolutionär, ein Anführer. Lange bekommt er den Spagat hin zwischen sportlicher Chance und wirtschaftlicher Vernunft. Doch irgendwann nach den famosen Erfolgen unter seiner ambitionierten Führung (Deutscher Meister 1995, 1996, 2002 sowie Champions-League und Weltpokal-Sieg 1997) schleichen sich Kontroll- und Realitätsverlust ein. „Niebaum hat viele sehr mutige Entscheidungen getroffen und zu Beginn seiner Zeit auch sehr viele richtige. Sonst hätte sich der BVB nicht so entwickeln können“, urteilt der langjährige BVB-Kapitän Stefan Reuter (1997 bis 2003). „Aber wenn du ein Macher bist und Entscheidungen triffst, besteht die Gefahr, dass du überziehst. In den letzten Jahren als Präsident hat er phasenweise ein zu hohes Risiko gewählt.“
Matthias Sammer, der als Trainer und Spieler elfeinhalb Jahre (1993 bis 2004) als enger Vertrauter Niebaums galt, wägt in seiner persönlichen Rückschau sorgfältig ab zwischen Verdiensten und Versäumnissen seines einstigen Förderers: „Gerd Niebaum hat den BVB national und international geprägt. Unter ihm hat der Klub Großes erreicht. Das ist Teil unserer Geschichte. Aber das wurde auch mit großem finanziellem Aufwand und Risiken erreicht. Das muss man auch sagen.“
Neun Tage vor seiner Rücktrittsankündigung sitzt Niebaum – an seiner Seite Manager Michael Meier – im Presseraum des Westfalenstadions und verkündet Horrorzahlen: einen Saisonverlust von 67,7 Millionen Euro und Rekord-Verbindlichkeiten von 118,8 Millionen Euro. Das ist das 1,2-Fache des Konzern-Jahresumsatzes (und entspräche heute bei einer Bruttokonzerngesamtleistung von 609 Millionen Euro Verbindlichkeiten von annähernd 725 Millionen Euro). Die Westfalen stehen wirtschaftlich am Abgrund, jetzt rächt sich ihre fatale, verschwenderische Geschäftspolitik. Niebaum und Meier klammern ihre Hoffnung an eine Kapitalerhöhung, die 24,3 Millionen Euro an frischem Geld bringen und eine weitere Eskalation der Finanzsituation verhindern soll.
Investor Homm verlangt Macht und Einfluss
Florian Homm, Großneffe von Versandhauskönig Josef Neckermann, Hedge-Fonds-Manager und Börsenhai mit fragwürdigem Ruf, sagt zu, 80 Prozent der neuen Aktien im Gegenwert von rund 20 Millionen Euro zu kaufen. Dafür verlangt Homm Macht und Einfluss. Aus einer Position der Stärke diktiert er der Dortmunder Geschäftsführung seine Bedingungen. Er will als Investor seine eigenen Leute an den Dortmunder Schalthebeln platzieren: zwei im Aufsichtsrat, drei im Beirat. Außerdem soll „schnellstmöglich“ ein externer dritter Geschäftsführer für die Bereiche Finanzen und Controlling gesucht und eingestellt werden.
Dass Niebaum spätestens 2006 als Geschäftsführer abtreten soll, wird ebenfalls vereinbart. Die BVB-Bosse beugen sich. Nur soll die Öffentlichkeit nichts davon erfahren. Besonders brisant ist das Versprechen Niebaums, Homm drei Positionen im Beirat der Geschäftsführungs-GmbH zuzugestehen, die zu 100 Prozent dem Altverein gehört. Mit diesem Zugeständnis ist der Rubikon überschritten: Einem Kapitalgeber wird schriftlich und hochoffiziell der Zugang zu Vereinsgremien eingeräumt. Das hätte Niebaum niemals tun dürfen. Er hat sich und den BVB verkauft.
„Übler Scherz oder glatte Fälschung?“ Homm entlarvt Niebaum
Als kicker und Süddeutsche Zeitung von dieser Vereinbarung Wind bekommen und daraus am 11. Oktober 2004 sogar zitieren, bezichtigt Niebaum sie der Lüge. Das Dokument sei ein „übler Scherz“ oder eine „glatte Fälschung“, er habe es nie gegengezeichnet, „das kann ich Ihnen versichern“. Niebaum leugnet, redet sich um Kopf und Kragen: Die Zeichnung neuer Aktien sei ohne Bedingungen erfolgt – und sein Rücktritt mit keinem Wort behandelt worden. Drei Tage wiegt sich Niebaum in einer trügerischen Sicherheit – bis ihn das von Homm an die Öffentlichkeit lancierte Originaldokument als Schwindler entlarvt. Dass der Präsident der Borussia das von ihm und Meier unterschriebene Schriftstück allen Ernstes „nur als Goodwill-Aktion“ Homm gegenüber betrachtet, kauft ihm niemand mehr ab.
Die Gegenspieler: Watzke und Materna
Tage hektischer Betriebsamkeit beginnen. Niebaum lädt zur Krisensitzung in sein Büro ein und kündigt noch intern seinen Rücktritt als Präsident – nicht als Vorsitzender der Geschäftsführung – an. Vergeblich bemüht sich Niebaum, auch Schatzmeister Hans-Joachim Watzke, den er neben Aufsichtsratschef Winfried Materna als seinen größten Gegenspieler ausgemacht hat, aus dem Amt zu drängen. Materna, Software-Unternehmer aus Dortmund und ehemaliger Präsident der Industrie- und Handelskammer, muss schließlich zurücktreten und Platz für Parfüm-König Gerd Pieper machen. Diese Bedingung knüpft Niebaum an seinen eigenen Rückzug.
Es ist ein trüber Herbstsonntag, als sich die Würdenträger von Borussia Dortmund im „Lennhof“ versammeln. Dieses alte Landhotel aus dem 14. Jahrhundert befindet sich (bis 2005) im Eigenbesitz des Klubs und firmiert noch bis 2013 als offizielles Mannschaftsquartier. „Unser Haus“, heißt es in der Eigenbeschreibung des Hauses, „hat schon viel gesehen (…) Besonders geschichtsträchtig ist es angesichts seiner Verbindung zum Fußball, insbesondere zum BVB.“ Geschichtsträchtig ist dann auch Niebaums Demission, die er nach mehrstündiger Zusammenkunft in einer improvisierten Pressekonferenz verkündet – umrahmt von Materna, seinem Nachfolger Dr. Reinhard Rauball und Meier. Die Schlagzeilen an diesem Tag muss sich Niebaum mit Klaus Toppmöller teilen, der nach einem 0:2 gegen Arminia Bielefeld beim Hamburger SV gefeuert und durch Thomas Doll ersetzt wird.
BVB entkommt haarscharf dem Lizenzentzug
Nur das Beste und Teuerste ist in der Ära Niebaum gut genug für den BVB. Investiert wird nach dem Lotto-Modell: In der Hoffnung auf sechs Richtige werden Millionen ausgegeben. Als der Erfolg ausbleibt und der überambitionierte Stadionausbau den Verein überfordert, gerät der BVB in eine existenzbedrohende Lage. Niebaum ist ein Zocker, der keine Kompromisse macht, süchtig nach Anerkennung. Ein Spieler, der 2004 mit seiner Borussia nur haarscharf dem Lizenzentzug entgeht. Erst ganz zuletzt, als sein eigener Niedergang schon Gestalt annimmt, räumt er Fehler ein, die zu häufig einer „Das kriegen-wir-schon-irgendwie-hin-Grundhaltung“ gefolgt seien.
Dem Rückzug folgt der persönliche Absturz
Der fast 76-jährige Niebaum lebt heute zurückgezogen in Dortmund. In den Signal-Iduna-Park zieht ihn nichts mehr, eine Einladung zum Champions-League-Finale in Wembley schlug er (ebenso wie Michael Meier) in diesem Jahr aus. Gelegentlich sieht man Niebaum noch in Dortmunder Restaurants wie dem „Jägerheim“, das Willi Kühne betreibt, der frühere Merchandising-Chef des BVB. Dem Rückzug aus der großen Welt des Sports folgt der persönliche Absturz: Niebaum verliert seine Zulassung als Anwalt und muss sich 2015 vor dem Landgericht Dortmund verantworten. Wegen Betrugs, Urkundenfälschung und Untreue wird er zu 20 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
Was bleibt? „Von der Ära Niebaum profitiert der Verein noch heute“, betont der ehemalige BVB-Angreifer Heiko Herrlich. „Zur Erfolgsgeschichte von Borussia Dortmund gehört, was Niebaum mit seinem Mut geschaffen hat. Das verdient Respekt. Er war aber auch Hauptverantwortlicher des wirtschaftlichen Niedergangs. Irgendwann hat er zu viel gewagt.“
Und wie endet Boris Beckers Talksendung? Sie wird nach nur elf Ausgaben Ende 2004 eingestellt. Die Einschaltquoten sind zu niedrig: Anfangs schauen mehr als 500.000 Interessierte zu, am Ende keine 100.000 mehr.